Hildegard von Bingen
Hildegard von Bingen lebte im Hochmittelalter und war Mystikerin,
Komponistin, Heilkundige und Naturforscherin. Sie wurde im Jahre
1098 als 10. Kind eines Landadeligen in Bermersheim bei Alzey geboren.
Vermutlich eher zierlich von körperlicher Statur, kämpft sie zeitlebens
mit gesundheitlichen Problemen. Vermutlich auf Wunsch ihrer Vaters
verließ Hildegard als 14-Jährige ihr Elternhaus, um gemeinsam mit der
Grafentochter Jutta von Sponheim in die Frauenklause des Klosters
Disibodenberg
einzutreten. Dieses Kloster liegt etwa drei Kilometer naheabwärts von
Bad Sobernheim
auf einer landschaftlich äußerst
reizvoll gelegenen Bergkuppe zwischen den beiden Dörfern
Staudernheim und Odernheim, unweit der Mündung des Glan in die
Nahe. Hier erhielt Hildegard jene umfassende Ausbildung, die den
Grundstein für ihre spätere Arbeit und ihre Schriften legte. Von den
ersten 24 Jahren ihres Klosterlebens ist nichts bekannt. Als jedoch im
Jahre 1136 Jutta von Sponheim starb, trat Hildegard ihre Nachfolge als
Äbtissin an. Sie trat damit gleichsam auch ins Rampenlicht der
Geschichte. Noch im gleichen Jahr begann Hildegard mit der
Niederschrift eines ihrer berühmtesten Werke —den sogenannten
"Visionen"— in lateinischer Sprache ("Scivias"). Sie erhielt dabei
Unterstützung von ihrer adeligen Schülerin Richardis von Stade, sowie
von einem Mönch des Klosters namens Vollmar. Der Erfolg ihres ersten
Werkes war so durchschlagend, dass sie fast von einem Tag auf den
anderen eine bekannte und anerkannte, wenn auch umstrittene
Schriftstellerin war. Der kontroverse Inhalt ihren Schriften wurde sogar
im Jahre 1147 auf der Trierer Synode in Gegenwart von Papst Eugen III.
und Bernhard von Clairvaux diskutiert. Die Synode kam schließlich zur
amtlichen Feststellung, dass sich Hildegard mit ihrer visionären
Beschreibung des christlichen Glaubens "im Rahmen der kirchlichen
Lehre" bewege. Ein wahrhaft großer Erfolg für eine Frau, was in der
damaligen Zeit ohne Beispiel war. Ihre intensiven Darstellungen, gepaart
mit einer eindringlichen und tief empfundenen Bildersprache, sind
zweifelsohne der eigentliche Grund für die Popularität dieses Werkes,
die auch heute noch andauert.
Bestärkt durch diesen Erfolg, setzte
Hildegard nun den seit längerem gehegten Plan der Gründung eines
eigenen Klosters konsequent in die Tat um. So brach Hildegard im
Sommer 1147, fast 50-jährig, mit 18 weiteren adeligen Frauen des
Klosters Disibodenberg auf, um auf dem
Rupertsberg
bei
Bingen,
etwa 30 Kilometer
naheabwärts an der Mündung der Nahe in den Rhein, ein eigenes
Kloster zu errichten. Dass dies nicht ohne Widerstand des Disibodenberger
Abtes abging, liegt auf der Hand. Aber Hildegards charismatische
Persönlichkeit führten auch diesmal zum Erfolg. Am 22. Mai des Jahres
1158 wurde die Klostergründung durch den Mainzer Erzbischof
urkundlich als Benediktinerinnen Abtei anerkannt. Nach ersten
entbehrungsreichen Jahren entwickelte sich eine regelrechte kleine
Klosterstadt auf dem Rupertsberg, in deren Mittelpunkt eine
zweitürmige Basilika stand. Der Erwerb des Klosters Eibingen auf der
gegenüberliegenden Seite des Rheins bedeutete im Jahre 1165 einen
eigentlichen Höhepunkt in der Geschichte des Klosters. Zentral für die
Bedeutung des Klosters war das Skriptorium, wo viele Schriften
Hildegards entstanden und mit farbigen Bildern kunstvoll illustriert
wurden. Darunter gibt es auch
prächtige Miniaturen,
die Hildegard bei der Arbeit an ihren Schriften darstellen. Die hier
gezeigten Miniaturen sind den ganzseitigen Bildtafeln in Hildegards
letztem Werk "Liber Divinorum Operum" (1163-1170) entnommen, dem sogenannten
"Lucca Codex",
der in der Staatsbibliothek von Lucca/Toscana (Italien) aufbewahrt wird.
Um das Jahr 1160 wurden Hildegards naturwissenschaftliche und
medizinische Schriften "Physica" und "Causae et Curae" fertiggestellt, die
auf Hildegards praktischen Erfahrungen mit der Klosterapotheke
basierten und das gesamte Therapie-Spektrum der damaligen
Klostermedizin zusammenfassten. Im Kern eine "moderne" ganzheitliche
Medizin, welche das Zusammenspiel von Körper und Seele in den
Mittelpunkt stellte. Im Kloster Rupertsberg entstanden auch die meisten
ihrer musikalischen Kompositionen und Gesänge, die im Stile der
Spätgregorianik abgefasst sind.
In den Jahren 1158-1170 absolvierte Hildegard, mittlerweile schon 60-jährig,
vier sehr erfolgreiche Predigtreisen, die sie in verschiedene
Landesteile führten, u.a. mit Auftritten in Köln und Trier. Diese Reisen
verhalfen ihr zu neuer überregionaler Bedeutung. Gleichzeitig gewann
sie zunehmend politischen Einfluss und erhielt im Jahre 1163 von Kaiser
Barbarossa eine Schutzurkunde für ihr Kloster. Im gleichen Jahr erschien
auch ihre zweite Visionsschrift. Aufgrund ihres Wirkens wurde sie in
dieser Zeit regelrecht zur Volksheiligen. Im Jahre 1174 erschien das letzte
Buch ihrer Trilogie ("De Operatione Dei"). Aus einem nichtigen Anlass
kam es 1178 jedoch zu einem folgenschweren Konflikt mit dem Mainzer
Erzbischof —sie hatte einen exkommunizierten Edelmann auf dem
Friedhof ihres Klosters beerdigen lassen. Dieser Konflikt eskalierte bis
zum kirchlichen Interdikt, konnte aber 1179 beigelegt werden. Kurze
Zeit später starb Hildegard einundachtzigjährig.
Ein fürwahr eindrückliches Lebenswerk einer streitbaren Dame, die sich
als Frau vehement gegen die Mächtigen ihrer Zeit durchzusetzen wusste
und mit vielen ihrer Gedanken erstaunlich "modern" war. Ihre
wissenschaftliche Arbeit und Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen
und medizinischen Fragen —höchst ungewöhnlich für eine Frau in der
damaligen Zeit— beeindruckt ganz besonders. Bei anderen Stellen ihrer
Schriften haben wir heute eher Mühe. Unabhängig davon vermitteln uns
aber Hildegards Bücher faszinierende und detaillierte Einsichten in
Leben, Kultur und Denkweise des Hochmittelalters.
Weiterführende Informationen:
Wisse die Wege — Scivias. Nach dem Originaltext des illuminierten
Rupertsberger Kodex der Wiesbadener Landesbibliothek ins Deutsche übertragen und bearbeitet
von Maura Böckeler, 8. Aufl. 1987
Charlotte Kerner: Alle Schönheit des Himmels. Die Lebensgeschichte der Hildegard von Bingen,
Beltz & Gelberg, 8. Aufl. 19988